Textatelier
BLOG vom: 19.12.2021

Kolumnen: Neues aus der Hebelstraße, Folge IV

Autor: Wernfried Hübschmann, Lyriker, Essayist, Hausen im Wiesental

 

Der in Hausen im Wiesental, im „Hebeldorf“ (ein Schelm, wer hier an Werkzeug denkt!) wohnende Schriftsteller Wernfried Hübschmann schreibt seit einigen Monaten regelmäßig unregelmäßig Kolumnen für die lokale „Hausener Woche“. Wir bringen hier in Abständen jeweils 3 von 15 bisher erschienenen Texte und ergänzen künftig das nachwachsende Textkraut und seine (Stil)Blüten. Viel Vergnügen!

 

Vom Talent zum Missverstehen

Nicht wenige von Johann Peter Hebels Kalendergeschichten beziehen ihren Witz und ihre Pointe aus einem Missverstehen. Das gilt auch für das berühmte „Kannitverstan“, wo unser überforderter Duttlinger sich in Amsterdam lost in translation wiederfindet, denn der Passant, den er anspricht und „der vermutlich etwas Wichtigeres zu tun hatte, und zum Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der Fragende von der holländischen, nämlich Nichts, sagte kurz und schnauzig Kannitverstan; und schnurrte vorüber.“ Dass der deutsche Handwerksbursche dennoch und gerade wegen (!) des Nicht-Verstehens und also „durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis“ gelangte, gehört zu jenen pädagogischen Kniffen, die Hebel nicht selten anwendet, um uns, den Leser, in den Bann seines Erzählens zu ziehen und mitzunehmen auf die lichte Bahn von Vernunft, Einsicht und Erkenntnis. In der Anekdote „Missverstand“, die ich hier anführe, ist das gutmütige Schmunzeln noch leichter zu haben. „Im 90er Krieg, als der Rhein auf jener Seite von französischen Schildwachen, auf dieser Seite von schwäbischen Kreis-Soldaten besetzt war, rief ein Franzos zum Zeitvertreib zu der deutschen Schildwache herüber. Filu! Filu! Das heißt auf gut deutsch: Spitzbube. Allein der ehrliche Schwabe dachte an nichts so Arges, sondern meinte, der Franzose frage: Wie viel Uhr? Und gab gutmütig zur Antwort: halber vieri.“ In beiden Fällen sind es also Sprachbarrieren, die, so unüberwindlich sie sind, doch am Ende zu etwas Gutem führen. Anders gesagt: das Fremde wird bei Hebel nie abgewertet. Es bleibt fremd und ist doch kein Hindernis für den Auftritt des Menschlichen. Der unverstandenen Sprache wird nichts Böses unterstellt, sondern eine wohlmeinende Absicht. Ein weiteres schönes Beispiel für stille Einfalt und edle Größe ist der „vorsichtige Träumer“, der, weil er im Traum einmal in eine Glasscherbe getreten ist, von nun an immer ein paar feste Pantoffeln anlegt, bevor er ins Bett geht. Hebel beginnt die kleine Erzählung mit der kopfschüttelnden Einsicht „Es gibt doch einfältige Leute auf der Welt.“ Nun, das gilt natürlich bis heute. Und so wollen wir festhalten, dass es uns nicht auf hohe Bildung und Faktenwissen ankommt, sondern auf Herzensgüte, Freundlichkeit, Dankbarkeit und dergleichen Tugenden mehr, deren wir heute ebenso bedürfen wie die Menschen zu Hebels Zeiten. Merke: Die Kalendergeschichten des Hausfreunds sind immer noch eine gute Lehre bei einem „Schluck in Ehre“!

Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann.

 

*

Gelassen stieg die Nacht an Land

Über das innere Gleichgewicht

In einem Trödelladen fand ich vor Jahren ein auf „alt“ getrimmtes Messingschild mit der Aufschrift LOSLASSEN. Und darunter stand nochmals in kleiner Schrift „Immer wieder loslassen“. Das Schild hing lange in meinem Büro, ich schaute es täglich an. Unvorsichtigerweise habe ich es einmal verliehen und wochenlang nicht zurückbekommen. Eine schwere Prüfung für meine Gelassenheit! Denn die innere Balance, die wir Gelassenheit oder Besonnenheit nennen würden, ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ist instabil, schwankend und ständig in Gefahr, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Wir müssen etwas tun, um diesen Zustand einzuüben, der im hektischen Alltag oft so unerreichbar erscheint. Nun ist ja die Frage, was wir nicht loslassen können. Woran halten wir fest? An Alltagsdingen, materiellen Gütern, an einem bestimmten Selbstbild, an Vorurteilen und Vorannahmen über Menschen und Ereignisse? Beim Aufräumen begegnen uns alte Bücher und Fotos, abgetragene Klamotten (nebst Motten), das aussortierte Geschirr von damals, Nippes aller Art, Prospekte und die Reiseführer von 1984. Vielleicht ist der Flohmarkt in Hausen Anfang September eine willkommene Gelegenheit, sich von manchem zu trennen, Ballast abzuwerfen und sich aufs Wesentliche zu besinnen. Rituale des Abschiednehmens können dabei helfen. Welchen Wert hatten diese Dinge einmal für mich? Kann ich die Gegenstände verabschieden und die innere Verbindung zu den Erlebnissen behalten? Welches Gefühl stellt sich ein, wenn wir loslassen? Ruhe, Frieden, Dankbarkeit? „Gelassen stieg die Nacht ans Land ...“, so beginnt Eduard Mörikes berühmtes Gedicht “Um Mitternacht“. Im Buddhismus gehört Gelassenheit zu den vier „grenzenlosen Geisteszuständen“: Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut, den man im westlichen Verständnis auch als „Gelassenheit“ bezeichnen kann. Gelassenheit führt uns aus der äußeren Hektik in die innere Ruhe zurück, die sich anfühlen kann wie jene „stoische“ Ruhe, von der Seneca oder Marc Aurel berichten. Vielleicht werde ich mich eines Tages ganz leicht von dem besagten Messingschild GELASSENHEIT trennen können. Der beste Weg wäre wohl, loszulassen und es zu verschenken. Im Gegenzug würde ich vermutlich bekommen: Inneren Frieden und ... Gelassenheit.

Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann

 

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Humor ist nicht immer lustig

Komödie = Tragödie + Zeit

Neulich erzählte mir ein Bekannter, dass bei seinem Versuch, das Wort „glutenfrei“ zu schreiben, sein Autokorrekturprogramm das Wort „gewaltfrei“ ausgespuckt habe. Das hat mich irgendwie beeindruckt. Wir hätten es also mit gewaltfreien Nudeln zu tun, sehr sympathisch. Unwillkürlich habe ich mir ausgemalt, wie sich denn aggressive oder fleischfressende Killernudeln verhalten würden. Ist vielleicht so Spaghetti Bolognese entstanden? Ein pazifistisches Nackensteak wurde von kriegerischer Piranha-Pasta in tausend kleine Stückchen gehackt, regelrecht zerfleischt. Das Tomatenmark diente vermutlich als eine Art Theaterblut. Der Beilagensalat als arglistige Tarnung mit italienischem Europameister-Pressing, also Dressing. In die Soße muss unbedingt Origami, nein: Oregano. Oder ist das diese Großstadt in Amerika? Quatsch, die heißt Oregon. Ja, so eine Buchstabensalat kann bisweilen den Sinn eines Satzes urinieren … äh runieren. Vorschlag: Wie wäre es heute Abend mit einem romantischen Candle Light Döner? Diese RechtschreiProgramme treiben mich noch in den Warenkorb! Ich habe gelesen, dass in Washington D.C. ein Mann MacDonalds verklagt hat, weil er abends immer noch schlecht gelaunt war – obwohl er mittags ein happy meal gegessen hatte. Vielleicht sollte er lieber zu Bürgerkrieg gehen – ich meine natürlich Burger King. Wie auch immer: denk butter daran, Brot einzukaufen! Ist also Nachkau-Zufriedenheit ein Fachbegriff für Gourmets und Weinliebhaber oder Psychologie für Vertriebsprofis? In Woody Allens Film „Melinda und Melinda“ (2004) fällt der denkwürdige Satz: „Komödie = Tragödie + Zeit“. Anders gesagt: wenn wir die bitteren Zumutungen des Alltags nur lange genug im Munde zergehen lassen, schmecken sie irgendwann süß. Die algorithmische Gärung setzt ein. In einigen Kulturen (u.a. in Mexiko, Thailand, Australien) sind Beerdigungen feucht-fröhliche Feste. Die Trauer findet ihren Ausdruck in purer Lebensfreude, mit der die Weiterlebenden den Verstorbenen würdigen. Humor ist nicht immer lustig. Und Trauer nicht immer traurig. Die Übergänge sind sprießend, fließend, prickelnd. Die größten Clowns waren alle Melancholiker: Chaplin, Grock, Rühmann, Marceau, Tati, de Funès, Gerhard Polt. Sie wussten: „Alles ist Übergang“. Das freilich ist ein Rilke-Zitat.

Nix für ungut! Ihr Wernfried Hübschmann.

 

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